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„Auschwitz war auch meine Stadt“ im WDR

Ein Film von Konstanze Burkard – Drei Zeitzeugen erzählen im WDR Fernsehen, wie aus der Stadt Oswiecim die "deutsche Musterstadt" Auschwitz wurde

WDR Fernsehen, Montag, 26. Januar 2009, 22.45 Uhr

"Als ich mit dem Zug nach Auschwitz fuhr, da guckte ich aus dem Fenster und sah in der Ferne lauter so gestreifte Häufchen, wie Kartoffelkäfer. Bloß größer. Und da wusste ich nicht, dass das Häftlinge waren. Das war meine erste Begegnung mit Häftlingen, die in Auschwitz stationiert waren," erinnert sich Johanna Scherzberg, die mit 19 Jahren ihr strenges Elternhaus in Thüringen verließ und als kaufmännische Angestellte der IG-Farben nach Auschwitz zog.

"Ich hatte nicht das Gefühl, in eine polnische Stadt zu fahren, das hieß ja Auschwitz. Und das war ja eine deutsche Bezeichnung," sagt Johanna heute, öffnet bereitwillig ihr Tagebuch und ihr Fotoalbum und erzählt von der, so sagt sie, "schönsten Zeit ihres Lebens".  Als eine der ersten beiden Frauen ging sie im Sommer 1942 zum  Aufbau des neuen Chemiewerkes der IG Farben von Leuna nach Auschwitz.

Auschwitz hieß bis Kriegsbeginn Oswiecim und war die Heimat des Juden Josef Jakubowicz. Er verbrachte hier eine unbeschwerte   Kindheit, bis die Nazis kamen und der 14-jährige als Zwangsarbeiter das Konzentrationslager Auschwitz bauen helfen musste – ohne zu ahnen, welchem Zweck es einmal dienen würde. Sein Elternhaus wurde abgerissen, weil es den Blick auf das Lager verstellt hätte, seine Familie deportiert.

Im Nachbarhaus lebte Karol Parcer, Josefs Freund unter den Christen. Seine Familie musste ihr Haus räumen für die SS-Offiziere. Aus Brzezinka, dem Dorf, in dem die beiden Jungen zur Schule gegangen waren, wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, in dem Josefs Eltern und fast seine ganze Familie ermordet werden sollten – wenige Meter von dem Ort entfernt, der einmal ihr zu Hause war. Josef wurde durch acht Konzentrationslager getrieben und überlebte wie durch ein Wunder. Nach dem Krieg in seine Heimatstadt zurückzukehren, war für ihn undenkbar. Karol hat die Schreckensherrschaft der Deutschen in Auschwitz erlebt und die Stadt nie verlassen.

Für die Deutsche Johanna Scherzberg waren die Jahre in Auschwitz eine produktive Zeit, eine Aufbauzeit. Sie saß im Vorzimmer des Betriebsleiters Walter Dürrfeld und ist vermutlich die letzte Zeitzeugin, die erzählen kann, wie sich das Leben der deutschen IG Farben Mitarbeiter in Auschwitz in Sichtweite zum Massenmord an den europäischen Juden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau abgespielt hat. Und sie tut dies mit bemerkenswerter Offenheit und in zahlreichen, bisher unveröffentlichten Privatdokumenten.

Aus der Perspektive dieser drei Zeitzeugen erzählt die Dokumentation, wie aus der Stadt Oswiecim, die wegen ihrer reichen jüdischen Kultur einmal als das polnische Jerusalem galt, die   "deutsche Musterstadt" Auschwitz wurde. Eine Stadt, in der tausende deutsche Siedler, SS-Angehörige und Angestellte der IG Farben in Saus und Braus lebten, während gleich nebenan millionenfach gemordet wurde.

In den ganz persönlichen Lebensgeschichten von Johanna Scherzberg, Josef Jakubowicz und Karol Parcer spiegeln sich die historischen Ereignisse zwischen dem 1. September 1939, dem Tag des Überfalls auf Polen, bis zum  27. Januar 1945, dem Tag, an dem die Konzentrationslager von Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit wurden.

An Originalschauplätzen wird zum ersten Mal neben der Geschichte der Konzentrationslager und Vernichtungslager Auschwitz auch die Geschichte der Stadt erzählt.

Gedreht wurde unter anderem in der Villa des Lagerkommandanten Rudolf Höss mit Blick auf das Konzentrationslager und die Kommandantur, im katholischen Pfarrhaus der Stadt, in dessen Keller sich in unverändertem Zustand die Gestapo-Zellen verbergen, und auf dem Sportplatz von Sosnowitz, auf dem im August 1943 tausende Juden von der SS zusammengetrieben, selektiert und ins Gas nach Auschwitz-Birkenau geschickt wurden.

Unter ihnen Josefs Eltern und hunderte andere Juden aus Auschwitz, die vor den Toren ihrer eigenen Stadt ermordet wurden. Gedreht wurde auch in der Chemiker-Siedlung, die in Auschwitz eigens für die Angestellten der IG Farben errichtet wurde. Heute leben polnische Familien dort, wo vor über sechzig Jahren die IG-Farben-Angestellte Johanna Scherzberg eine gemütliche Wohnung bezog. Wie sie dort lebte, zeigen zahlreiche, bisher unveröffentlichte Photos und Dokumente aus ihrem Privatbesitz und Johannas Tagebucheinträge, die zu den Verbrechen der Nazis schweigen, aber reichlich Auskunft zum Alltagsleben  der Deutschen in Auschwitz geben.

Zu sehen sind auch bisher unveröffentlichte Pläne und Zeichnungen, die den Umbau des polnischen Jerusalems zur deutschen Musterstadt am Rande des Vernichtungslagers Auschwitz dokumentieren – durchgeführt von Chefarchitekt Hans Stosberg, der nach dem Krieg einer der Hauptplaner beim Wiederaufbau von Hannover wurde.

PM: Westdeutscher Rundfunk