Studie zur Jugendkriminalität vorgestellt

Professor Dr. Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) hat heute (22. Juli) im Beisein von Oberbürgermeister Stephan Weil, Polizeipräsident Uwe Binias und Polizeivizepräsident Rainer Langer die neueste Studie des Instituts vorgestellt.

Die kurz gefassten Ergebnisse zur "Entwicklung der Jugenddelinquenz und ausgewählter Bedingungsfaktoren seit 1998 in den Städten Hannover, München, Stuttgart und Schwäbisch Gmünd" geben wir Ihnen mit beiliegender Pressemeldung des KFN zur Kenntnis.

Jugendgewalt und Jugenddelinquenz in Hannover
Aktuelle Entwicklungen und Befunde seit 1998

Das KFN führt seit 1998 in vielen Städten und Landkreisen Deutschlands repräsentative Schülerbefragungen zur Jugendgewalt und Jugenddelinquenz durch. Für Hannover zeigt sich dabei zwischen 1998 und 2006 eine insgesamt betrachtet sehr positive Entwicklung. In vielfacher Hinsicht fällt sie deutlich besser aus als die anderer Städte. Das gilt insbesondere im Hinblick auf München. Doch zunächst zur Situation in Hannover:

  • Der Anteil der Neuntklässler, die in den letzten 12 Monaten vor der Befragung Opfer einer Gewalttat geworden sind (Raub, Erpressung, Körperverletzung, sexuelle Gewalt) ist zwischen 1998 und 2006 um ein Viertel zurückgegangen (von 28,0% auf 21,2%). Entsprechendes zeigt sich im Hinblick auf die Quote der jugendlichen Gewalttäter (von 20,1% auf 15,2%). Bei den Mehrfachtätern (mehr als fünf Gewalttaten im letzten Jahr) beträgt der Rückgang sogar ein Drittel (von 6,3% auf 4,1%). Besondere Beachtung verdient, dass diese Entwicklung bei den nichtdeutschen Jugendlichen noch stärker ausfällt als bei den deutschen (Letztere 4,6% zu 3,2%). Bei türkischen Jugendlichen ist beispielsweise die Mehrfachtäterquote seit 1998 von 15,3 auf 7,2 Prozent gesunken. Parallel dazu gibt es in Hannover auch in anderen Delinquenzbereichen einen beachtlichen und teilweise sehr stark ausgeprägten Rückgang (Gewalt an Schulen und Mobbing, Fahrzeugdiebstahl und Ladendiebstahl, Sachbeschädigung und Graffiti).􀂃
  • Auffällig ist, dass im Vergleich der Befragungen von 1998 und 2005 in München die Gewaltopferrate leicht zugenommen hat (18,5% zu 19,0%). Zwar ist die Täterrate bei deutschen Jugendlichen leicht rückläufig (4,1% zu 3,1%), nicht aber bei den jungen Migranten. Die Mehrfachtäterquote ist bei jungen Türken sogar von 6 auf 12, 4 Prozent angestiegen. Und auch die anderen Trends fallen nicht so positiv wie in Hannover aus.

Die Gründe für die erfreuliche Entwicklung in Hannover sind vielfältig. Ein Faktor verdient aber besondere Beachtung: Die verbesserte schulische Integration der jungen Migranten. Insgesamt betrachtet ist in Hannover die Quote der Hauptschüler zwischen 1998 und 2006 von 22,6 auf 16,7 Prozent gesunken, die der Gymnasiasten ist von 35 auf 40,5 Prozent gestiegen. Beides beruht in hohem Maß darauf, dass sich die schulische Integration der jungen Migranten und hier insbesondere der jungen Türken erheblich verbessert hat. So ist der Anteil türkischer Jugendlicher, die ein Gymnasium besuchen, um drei Viertel angestiegen (von 8,7% auf 15,3%), die Quote der Realschüler/Gesamtschüler hat von 44,2 auf 52,2 Prozent zugenommen. Die der Hauptschüler ist dagegen von 47,1 auf 32,5 Prozent gesunken. In München hat sich die schulische Integration türkischer Jugendlicher teilweise sogar verschlechtert. Die Gymnasialquote ging von 18,1 Prozent im Jahr 1998 auf 12,6 Prozent im Jahr 2005 zurück. Die Hauptschule besuchten 2005 fast doppelt so viele türkische Neuntklässler wie in Hannover (61,4%), während es nur halb so viele Real-/Gesamtschüler gab.

Die Unterschiede, die sich zur Bildungsintegration von türkischen Jugendlichen in Hannover und München zeigen, sind deshalb von erheblicher Bedeutung, weil die KFN-Studie eines klar belegen kann: Die Hauptschule ist im Verlauf der letzten zehn Jahre schrittweise zu einem eigenständigen Verstärkungsfaktor der Jugendgewalt geworden. Da in ihrer Schülerschaft der Anteil der familiär und sozial erheblich belasteten Jugendlichen stark angewachsen ist, haben sich negative Aufschaukelungs- und Ansteckungseffekte ergeben, denen die Schulen nur schwer entgegensteuern können. Die Folgen davon zeigen sich im Anteil der Freunde von türkischen Jugendlichen, die in den beiden Städten angegeben haben, dass sie fünf und mehr delinquente Freunde haben (München 27,5%, Hannover 19,5%; keine delinquenten Freunde haben demgegenüber in München 28,8%, in Hannover dagegen 38,8%).

Die verbesserte Schulintegration der Migranten in Hannover wird dadurch erleichtert, dass die in ihrer Qualität zweifelhaften Schullaufbahnempfehlungen für junge Migranten in Hannover nicht bindend sind, wohl aber in München. Vor allem aber wirkt sich in Hannover aus, dass sich in dieser Stadt im Verlauf der letzen zehn Jahre ein laufend stärker werdendes bürgerschaftliches Engagement für die schulische und soziale Integration von Kindern und Jugendlichen aus sozialen Randgruppen entwickelt hat. So hat die Bürgerstiftung Hannover seit 1998 mit insgesamt 750.000 € ca. 240 Projekte im Kinder- und Jugendbereich gefördert und hier vor allem die engagierte Arbeit von Vereinen, Schulen und anderen Initiativen unterstützt. Ein weiteres Bespiel ist der Verein Mentor e.V., der inzwischen mit seinen über 900 ehrenamtlichen Helfern 1.200 Kinder und Jugendliche (und hier primär junge Migranten) dabei unterstützt, schulisch besser voranzukommen. Weitere Beispiele sind etwa die Vereine „Balu und Du“ oder „Die Glockseestrolche“.

Als ein weiterer Stabilisierungsfaktor für die soziale und schulische Integration hat sich in Hannover erwiesen, dass es gelungen ist, das Schuleschwänzen deutlich zu reduzieren. Besonders die Quote der Intensivschwänzer (fünf und mehr Tage im Halbjahr) ist seit 1998 von 18,8 auf 10,7 Prozent zurückgegangen. Offenbar wirkt sich hier aus, dass sich Hannover 2003 an einem Modellversuch beteiligt hat, mit dem es gelungen ist, die schulischen Kontrollen nachhaltig zu verbessern und die Hilfsangebote für Schulschwänzer auszuweiten. Hinzu kommt aber ein weiterer Faktor: Schüler, die statt früher die Hauptschule heute die Realschule oder die Gesamtschule besuchen, haben offenkundig eine höhere Motivation zur Schule zu gehen. Auch in dieser Hinsicht schneidet München im Übrigen erheblich schlechter ab. Die Quote der Intensivschwänzer ist dort nur von 18,9 auf 14,7 Prozent gesunken.

Die Anzeigequote der jungen Gewaltopfer ist in Hannover seit 1998 besonders deutlich angestiegen: bei Körperverletzungen ohne Waffen z.B. um ein Drittel von 15,5 auf 21 Prozent, bei Raubdelikten sogar um vier Fünftel von 34,9 auf 60 Prozent. Die Polizei dürfte durch ihre Arbeit an den Schulen beträchtlichen Anteil daran haben, dass das Vertrauen der Opfer in staatliche Hilfe erheblich zugenommen hat. Aus der Sicht der Täter betrachtet hat sich dadurch deren Risiko stark erhöht, sich wegen ihrer Gewalttaten vor Gericht verantworten zu müssen, was ihren Tatendrang erheblich reduziert haben dürfte.

Verbesserungen gibt es auch im sozialen Umfeld der Jugendlichen: die innerfamiliäre Gewalt ist in ihren leichten bis mittelschwereren Formen in allen ethnischen Gruppen zurückgegangen. Ferner gehen die Jugendlichen inzwischen weit häufiger als früher davon aus, dass Lehrer oder Freunde es missbilligen würden, wenn sie Gewalt anwenden. Und sie verkehren seltener in Cliquen und Freundeskreisen, die von delinquenten Jugendlichen geprägt sind.

Hohes Lob verdienen die Schulen Hannovers, die an der beschriebenen Entwicklung einen großen Anteil haben. Nachweisbar hat sich die Kultur des Hinschauens verbessert. Die Interventionsbereitschaft der Lehrkräfte ist gestiegen, die Gewalt an Schulen und das Mobbing sind rückläufig; die Integration von jungen Migranten hat sich deutlich verbessert. Die vorliegenden Daten haben wir dazu genutzt, zu insgesamt 11 Variablen Durchschnittswerte pro Schule zu ermitteln. Am besten schneiden danach bei den staatlichen Gymnasien Hannovers die Schillerschule und die Herschelschule ab. Hervorragende Ergebnisse zeigen sich ferner zu zwei nur begrenzt vergleichbaren privaten Schulen: der Freien Waldorfschule Βοthfeld und der St. Ursula Schule in katholischer Trägerschaft. Von den Gesamtschulen haben die Gesamtschule Mühlenberg und die Gesamtschule Kronsberg die besten Ergebnisse erzielt. Von den Realschulen sind es die Realschule im Schulzentrum Ahlem und die Dietrich-Bonhoeffer-Realschule. Und schließlich sind von den Hauptschulen die Pestalozzischule und die Hauptschule im Schulzentrum Badenstedt positiv hervorzuheben. Darüber hinaus möchten wir aber auch allen anderen Schulen Hannovers und den dort tätigen Lehrerinnen und Lehrern ausdrücklich dafür danken, dass sie ihre Arbeit nicht nur als Wissensvermittlung verstehen, sondern dass sie sich zunehmend mit den Schülern über richtiges und falsches Verhalten in Schule und Öffentlichkeit engagiert auseinandersetzen. Unser besonderer Respekt gilt dabei den Lehrern, die an Hauptschulen und Förderschulen tätig sind. Sie haben durch die dort zunehmend stärker ausgeprägte Konzentration sozialer Randgruppen eine besonders schwierige und wichtige Aufgabe zu erfüllen.

Gewalt und Jugenddelinquenz werden auch durch den Drogenkonsum gefördert – z.B. in nicht unerheblicherweise durch Cannabis. Von daher hat sich positiv ausgewirkt, dass der Drogenkonsum insgesamt rückläufig ist (Cannabis z.B. von 25,3% auf 19%, harte Drogen von 6 auf 3%). Auch das häufige Rauchen ist von 37,5 auf 24 Prozent zurückgegangen. Nur zum Alkoholkonsum zeigt sich keine positive Entwicklung. Nachdem unsere Befragungsdaten noch unverändert hohe Raten dokumentierten (z.B. waren im Jahr 2005 27,3% häufige Konsumenten), belegen die aktuellen Zahlen von Polizei und Krankenhäusern, dass es in den letzten zweieinhalb Jahren hier zu einer deutlichen Zunahme des exzessiven Trinkens gekommen ist.

Ein zweiter Bereich, der zu Sorgen Anlass gibt, ist der ausufernde und inhaltlich problematische Medienkonsum vieler Jugendlicher. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die männlichen Neuntklässler. So verbringen von ihnen 25,7 Prozent pro Tag im Durchschnitt mindestens vier Stunden mit Computerspielen; von den männlichen Hauptschülern sind es sogar 37,4 Prozent. Die KFN-Schülerbefragung 2005 hatten wir dazu genutzt, durch gesonderte Fragen den Anteil der Jugendlichen zu ermitteln, die als computerspielabhängig einzustufen sind. Legen wir diese Erkenntnisse zugrunde, errechnet sich in Bezug auf die männlichen Jugendlichen Hannovers eine Quote von ca. 9 Prozent, die in suchtartiges Spielen geraten sind (5,4%, die mindestens vier und mehr Stunden spielen, 3,6%, die in der Spieldauer etwas niedriger liegen).

Hinzu kommt, dass sich auch der Fernsehkonsum der Jugendlichen stark angestiegen ist. Im Jahr 2000 besaßen von den Mädchen unter den Neuntklässlern 36,7 Prozent einen eigenen Fernseher, von den Jungen 25,4 Prozent. Sechs Jahre später waren es von den Mädchen 61,2 Prozent und von den Jungen 72,3. Wegen eines unterschiedlichen Abfragemodus der Fernsehzeiten kann zwar nicht exakt berechnet werden, in welchem Ausmaß sich der Fernsehkonsum erhöht hat. Die Daten deuten aber darauf hin, dass die Quote der Jungen und Mädchen mit mindestens vier Stunden Fernsehen pro Tag um mehr als das Doppelte angestiegen ist (Mädchen 2006 48,1%, Jungen 54,1%).

Die Tatsache, dass wir in Hannover 2006 die Gesamtheit aller Neuntklässler erfassen konnten, hat im Hinblick auf die Problembelastung der Jugendlichen eine Auswertung nach Stadtteilen ermöglicht. Danach zeigt sich, dass Kirchrode und das Zooviertel den Jugendlichen besonders förderliche Rahmenbedingungen bieten können. Gut schneiden hier ferner die Südstadt und Misburg-Süd ab. Eher hoch belastet sind dagegen die Stadtteile Linden-Süd, Kleefeld, Lahe, Leinhausen, Herrenhausen und Ricklingen. Hier wäre zu wünschen, dass der Kommunale Präventionsrat der Stadt Hannover gemeinsam mit den in diesen Stadtteilen erreichbaren Kräften (Polizei, Bezirksrat, Schulen, Offene Jugendarbeit, Kirchengemeinden, Nachbarschaftsinitiativen, Sportvereine usw.) ein Konzept dafür erarbeitet, wie man den beschriebenen Problemen begegnen sollte.

Die insgesamt gesehen positive Entwicklung Hannovers führen wir im Übrigen auf einen Faktor zurück, zu dem wir im Rahmen der aktuellen Untersuchung keine gesonderte Datenerhebung durchgeführt haben: die hohe Qualität der Arbeit der Polizei und der anderen an der Strafverfolgung von Jugendkriminalität beteiligten Institutionen. Im Wege einer aufwändigen Aktenanalyse hatten wir das bereits für die 90er Jahre im Rahmen eines Städtevergleiches ermittelt, bei dem Hannover hervorragend abgeschnitten hatte. Die aktuellen Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik und der Strafverfolgungsstatistik deuten darauf hin, dass sich die Strafverfolgung von Jugendgewalt in Hannover nach wie vor auf gutem Kurs befindet.

Doch was sollte im Hinblick auf die dargestellten Probleme geschehen, die die Untersuchung zu Tage gefördert hat? Eine konstruktive Antwort liegt auf der Hand: Wir brauchen dringend den Ausbau unserer Schulen zu Ganztagsschulen. Gerade bei den Kindern und Jugendlichen, die von ihren Familien wenig Unterstützung dabei erhalten, ihre Nachmittage konstruktiv zu gestalten, erscheint diese Lösung als einziger Ausweg aus der vor allem die Jungen aus sozialen Randlagen betreffenden, krisenhaften Zuspitzung ihrer Situation. Die Tatsache, dass beispielsweise im Jahr 2005 von den männlichen jungen Migranten bundesweit 21 Prozent die Schule ohne Abschluss verlassen haben ist ein Alarmsignal, das Kommunen und Bundesländer gleichermaßen zum Handeln veranlassen müsste. Aber auch alle anderen Jugendlichen werden von Ganztagsschulen profitieren, wenn eine Bedingung erfüllt wird: Die Schulen müssen in die Lage versetzt werden, nachmittags ein Motto umzusetzen: Lust auf Leben wecken durch Sport, Musik, Theater und soziales Lernen. Hier sind nicht nur der Staat und die Kommunen gefragt, sondern ebenso die zivilgesellschaftlichen Kräfte, die gerade in Hannover schon so viel Positives in Angriff genommen und umgesetzt haben. Wir brauchen eine alle Beteiligten gleichermaßen begeisternde Vorstellung davon, was wir an den Schulen schrittweise realisieren wollen.

Zur Frage der steigenden Computerspielabhängigkeit von männlichen Jugendlichen und jungen Männern kündigen wir an, dass das KFN hier gemeinsam mit der MHH in den nächsten Jahren nach konstruktiven Antworten suchen wird. Im Hinblick auf den exzessiven Alkoholkonsum der jungen Menschen und die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche in Kaufhäusern problemlos an jugendgefährdende Medieninhalte herankommen, empfehlen wir dringend, auf Landesebene den Einsatz von jugendlichen Testkäufern zu ermöglichen. Nur wenn wir so das Risiko der Tataufdeckung für Ladeninhaber und Verkaufspersonal drastisch erhöhen, wird aus dem zahnlosen Tiger des Jugendschutzgesetzes wirksames Recht.

PM: Presseserver Hannover und KRIMINOLOGISCHES FORSCHUNGSINSTITUT NIEDERSACHSEN E.V.